Herrgott nochmal!

Herrgott nochmal!

Jüngst verstarb ein guter Bekannter von mir. Ich nenne ihn Hans-Hubert. In Wirklichkeit hieß er anders. Er starb an multiplem Organversagen, hatte sich eine Blutvergiftung zugezogen. Eine Katze hatte ihn in den Handrücken gekratzt. Es folgte eine Odyssee. Die Hand schwoll immer wieder an, später der Arm und irgendwann war der gesamte Körper betroffen – eine Infektion durch multiresistente Keime. Nichts half mehr.

Was war die Ursache? Die Kratzwunde, die multiresistenten Bakterien, dass mein Bekannter überhaupt geboren wurde? Wer nicht geboren wurde, kann nicht an einer Blutvergiftung sterben. So hat alles im Leben seine Ursache, manchmal hat ein Ereignis aber auch mehrere, mitunter gar viele Ursachen. Erst wenn sich alle diese Ursachen zu einem unheilvollen Gesamten formen, steht der Sensenmann vor der Tür.

Und die verursachenden Ereignisse? Ohne Katze wäre das nicht passiert. Ohne multiple Resistenzen, keine unheilbaren Infektionen. Was war also die Ursache dafür, dass Hans-Hubert einer Katze zu nahe kam? Weshalb gibt es multiresistente Keime?

Sucht man nach den wahren Gründen, gelangt man in einen sog. „infiniten Regress“. Alle Ereignisse, die letztlich das Schicksal von Hans-Hubert besiegelten, hatten eine Ursache. Und alle Ursachen waren die Folge von anderen Konstellationen, die wiederum als Ursachen der Ursachen herhalten müssen. Man bewegt sich somit immer weiter zurück in die Vergangenheit. Irgendwann gelangt man dann zu den alles entscheidenden Ursachen im Zeitpunkt 0. Aber wer hat diese Ursprungskonstellation konzipiert? Es bleibt nur eine Antwort: Gott. So jedenfalls hat es Thomas von Aquin in seinem kosmologischen Gottesbeweis gesehen.

Mir drängt sich aber dann sofort die Frage auf: Wer hat denn Gott erschaffen? Ein Übergott? Wurde dieser wiederum von einem Über-Übergott erschaffen? Das fragte schon Carl Sagan in seiner berühmten Fernsehsendung „Unser Kosmos“.

Gott, das ist das allmächtige unübertreffliche großartige Wesen, unser Weltenlenker. Angenommen, diesen Gott gäbe es nur in unseren Vorstellungen, aber nicht in Wirklichkeit. Dann stünde diese Aussage im Widerspruch zur Unübertrefflichkeit unseres Gottes, denn wir könnten uns einen weiteren Gott vorstellen, der noch mächtiger ist als der Gott unserer Vorstellung, nämlich jener, der genauso allmächtig und unübertrefflich ist, aber – und das übertrifft den Vorstellungsgott – in der Wirklichkeit existiert. Wir hätten somit einen Widerspruch zur Unübertrefflichkeit unseres Vorstellungsgottes. Durch Widerspruch ist somit bewiesen, dass Gott die Weltenlenkung nicht nur in unseren Vorstellungen, sondern in der Wirklichkeit betreibt. So jedenfalls sahen es Anselm von Canterbury und René Descartes in ihren ontologischen Gottesbeweisen.

Pragmatischer dagegen der berühmte französische Mathematiker Blaise Pascal: Wir können nicht beweisen, dass es einen Gott gibt. Da wir immer damit rechnen müssen, dass er trotzdem existiert, sollten wir uns zu Lebzeiten so verhalten, als ob es ihn gäbe. Doch was passiert denen, die an den falschen Gott glauben, verschlimmern sie nicht ihr Schicksal nach dem Tod dadurch, dass sie dem falschen Herrn huldigen, womöglich gar dem Spaghetti-Gott.

Alles sehr kompliziert. Wir versuchen es mit Erfahrungswissenschaft und Indizien. Auffällig ist, dass der Glaube an eine Gottheit, aber auch an mehrere, durchaus verschiedene Gottheiten, unter allen entwickelten Wirtschaftsnationen immer noch Bestand hat. Wenn Glaube unnütz wäre, müsste sich dann nicht eine überlegene Gesellschaft herausbilden, unter welcher Religionen unbedeutend sind? Immerhin zahlen die deutschen Kirchgänger – und nicht nur die: alle Mitglieder der beiden vorherrschenden nationalen Konfessionen – ca. 7% der Einkommensteuer jährlich als Kirchensteuer. Das dürften je nach Einkommen ungefähr 1,5 bis 3% des Bruttoeinkommens sein. Könnte man sich nicht Kirchen und Klöster sparen? Schließlich gibt es auch keine gelben Telefonzellen mehr, weil wir sie nicht brauchen.

Es spricht somit einiges dafür, dass der Glaube, konkreter: die Überzeugung eines Lebens nach dem Tode, eine bestimmte wohlfahrtsstiftende Funktion übernimmt. In diesem Zusammenhang gelangt man sofort zur Spieltheorie. Dort gibt es vier Kategorien von Spielen.

Es gibt Spiele, die werden nur ein einziges Mal gespielt. Will man erfolgreich aus einem solchen Spiel hervorgehen, so sollte man selbst dann, wenn eine Kooperation mit dem Gegenüber eine höhere Auszahlung verspricht, nicht darauf vertrauen, dass dieser ebenfalls die vertrauensstiftende Variante spielt. Möglicherweise macht er ein besonderes Schnäppchen, wenn er nicht kooperiert, während der andere kooperiert, so beim Gefangenen-Dilemma.

Wenn zwei Untersuchungshäftlinge nur wegen gemeinsamen Totschlags verurteilt werden können, und deshalb milde bestraft werden, solange nicht einer über die wahren Motive des anderen auspackt, so könnte die Staatsanwaltschaft versuchen, über die Kronzeugenregelung weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Für zwei gleichzeitig geständige Verdächtige gibt es allerdings keine Kronzeugenregelung. Sie greift, wenn nur einer der beiden Verdächtigen über die Straftat informiert. Eine solche Regelung stiftet beide Häftlinge dazu an, über die Motive des jeweils anderen auszusagen. In der Konsequenz werden somit möglicherweise genug Beweismittel zusammengetragen: Beide Untersuchungshäftlinge können zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Mordes verurteilt werden.

Andere Spiele werden häufig gespielt. Jedoch kennen beide Teilnehmer genau den Zeitpunkt, zu dem die Partie endet. Egoistische Spieler werden im letzten Zug nicht mehr zusammenarbeiten, sondern versuchen, den Gegenüber zum eigenen Vorteil auszubeuten, denn diese Ausbeutung kann vom Gegenspieler nicht mehr bestraft werden. Dieses Ergebnis antizipieren die Beteiligten. Deshalb werden sie auch in der vorletzten Runde nicht gemeinsam agieren, denn eine Kooperation liefert keinen Zusatzertrag für das letzte Spiel. Also entfällt auch im vorletzten Aufeinandertreffen das vertrauensvolle Zusammenwirken. Dasselbe gilt für alle davor liegenden Auseinandersetzungen. Mithin wird sich auch unter einer begrenzten Anzahl von Spielen keine gemeinsame Kooperation zum beiderseitigen Vorteil bilden.

Man stelle sich vor, im Wilden Westen plant ein wild zusammengewürfelter Haufen von mordlustigen Halunken, einen Geldtransport zu überfallen. Die einzelnen Mitglieder der Gruppe haben verschiedene Aufgaben zugewiesen bekommen. Zwei Reiter sind zuständig für die Errichtung einer Blockade auf den Schienen, zwei weitere sollen sich des Führerstands der Dampflok bemächtigen. Die übrigen sind eingeplant, den gepanzerten Waggon mit dem eingelagerten Geld aufzusprengen und dieses zu entwenden. Wäre es nicht ein wild zusammengewürfelter Haufen von Gaunern, sondern der Clan einer Familie, der sich des Zugs bemächtigen wollte, so würden die Clanmitglieder – ihr Spiel geht auch nach dem Überfall weiter – vertrauensvoll wie ein eingespieltes Team agieren. Die Halunken dagegen misstrauen sich gegenseitig und versuchen, den jeweils anderen zu kontrollieren. Alle wissen, dass das Spiel unmittelbar nach dem erfolgreichen Überfall enden wird. Im letzten Akt wird dann die Beute aufgeteilt. Wer nicht ständig darauf aufpasst, dass er nicht aus dem Hinterhalt umgebracht wird, läuft Gefahr die Verteilung der Beute nicht mehr zu erleben.

Eine Variante des soeben vorgestellten endlichen Spiels ist die unendlich andauernde Partie, die allerdings mit einer spezifischen Wahrscheinlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt abbricht. Das Leben beschreibt eine solches Spiel. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt aus seinem Leben gerissen werden. Der Abbruch des Spiels kann aber auch dadurch erfolgen, dass man beruflich bedingt umziehen muss oder dass man sich seinen Gläubigern durch Wohnortwechsel oder Flucht zu entziehen versucht. Wenn die Wahrscheinlichkeit des abermaligen Aufeinandertreffens der Beteiligten nur ausreichend klein ist, so lohnt es sich für jeden Teilnehmer, seinen eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf ein etwaiges Mitwirken des Gegenübers zu maximieren. Das ist regelmäßig ungünstiger, als wenn die Spielbeteiligten miteinander kooperierten. Dementsprechend ist der Wohlstand in einer Gesellschaft, in der feststeht, dass sich die Spiele dauerhaft wiederholen – die vierte Variante – höher als der in einer Gesellschaft, die unter der soeben beschriebenen dritten Variante funktioniert.

Zu dauerhaften Spielwiederholung gelangt man über den Glauben. Besteht unter den eigennutzorientierten Gesellschaftsmitgliedern die feste Vorstellung, dass ein jeder Mensch nach seinem Tod vor einem göttlichen Richter Zeugnis darüber abzulegen hat, wie er sein Leben vollbrachte, wie er mit den Mitmenschen umging. Und glaubt dieser Mensch für sein Wohlverhalten, die Kooperation, nach dem Tode im Jenseits belohnt, dagegen für den nur auf das eigene Wohl gerichteten Eigennutz bestraft zu werden, so besteht ein ausreichender Anreiz, im Diesseits zu kooperieren.

Der religiöse Glaube übernimmt somit in den entwickelten Gesellschaften die Funktion, deren Wohlfahrt zu steigern.

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